Festansprache

Dr. Ing. e.h. Wolfgang Clement
Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen

Naturwissenschaften und Naturwissenschaftlern wird gemeinhin eine gewisse Unnahbarkeit nachgesagt. Das hat wohl etwas mit der Komplexität der Gegenstände zu tun, mit denen sie sich beschäftigen - gerade die Physik und gar die Kernphysik wird ein Lied davon singen können:

Wer sich damit beschäftigt, was die Welt im Innersten zusammenhält (Goethe, Faust), muss der nicht nachgerade in der Eremitage - im Elfenbeinturm der Atome, der Quarks & Co. leben und forschen?

Kann er sich überhaupt anderen verständlich machen und bei Nichteingeweihten Resonanz und Interesse erwarten?

Sie vermuten schon, dass ich jetzt eine rhetorische Frage gestellt habe:

Diese Physik, sehr geehrter Herr Professor Jarczyk, bringt uns immerhin hier und heute zusammen - mit der Unnahbarkeit kann es also schon deshalb nicht so weit her sein.

Das öffentliche Interesse an den Naturwissenschaften und ihren Einzeldisziplinen ist im Gegenteil selten so intensiv gewesen wie heute (auch wenn wir, wie man weiß, allen Anlass haben, mehr junge Leute für diese Studienfächer zu gewinnen). Das gilt auch für die Physik, die, wenn wir zurückblicken, durchaus als Königswissenschaft das Tor zur wissenschaftlich-technischen Moderne aufgestoßen hat (Galilei, Newton u.a.).

Dass die Physik nach wie vor fasziniert, dass sie in der Öffentlichkeit Interesse, Akzeptanz, aber auch Kritik und scharfe Ablehnung erzeugt, hat wenigstens mit zweierlei zu tun:

Natürlich mit dem, was sie - zum Beispiel in der Kernphysik - entdeckt und dann praktisch bewirkt. Aber genauso hat dieses Interesse mit den Personen zu tun, die hier als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler agieren; und die Physik ist ja bis heute mit interessanten Persönlichkeiten nicht zu knapp ausgestattet (z.B. Stephen Hawking, Richard Feynman, C.F. von Weizsäcker).

Sogar die Instrumente und Institutionen, mit und an denen geforscht wird, machen von sich reden. DESY, CERN und COSY sind heute zumindest keine großen Geheimnisse mehr. Das Forschungszentrum Jülich - selbst längst ein bekannter Markenname - ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass und wie sich naturwissenschaftliche Forschung auch nach außen darstellen und für ihre Disziplinen werben kann.

Ein ganz besonderer Glücksfall ist aber immer dann gegeben, wenn sich wissenschaftliche Leistung und markante Persönlichkeiten an einem solchen Ort ein Stelldichein geben. Mir ist der kürzliche Besuch des Kabinetts im Forschungszentrum und in der Zitadelle in bester Erinnerung geblieben.

So ist es für mich eine ganz besondere Freude, heute an der Ehrung einer Forscherpersönlichkeit mitwirken zu dürfen, die mit Jülich und seinem Forschungszentrum seit langem wissenschaftlich und freundschaftlich verbunden ist. Das, sehr geehrter Herr Professor Jarczyk, scheint mir, nach allem, was ich gehört und gelesen habe, bis heute eine ausgesprochen glückliche Liaison zu sein - und das meine ich ausdrücklich nicht nur mit Blick auf Ihr wissenschaftliches Wirken!

Wissenschaft kann und soll ja nicht nur die Natur erklären, sie kann und soll auch die Forschenden, die Menschen über politische Grenzen hinweg verbinden. In ihren Sternstunden hat Wissenschaft immer dazu beigetragen, Menschen einander begegnen und verstehen zu lassen. Dass es allerdings auch Zeiten gab und noch gibt, in denen das keine Selbstverständlichkeit war und ist, wissen wir, wissen Sie, Herr Professor Jarczyk, auch.

Es ist noch gar nicht so lange her, da ist wissenschaftlicher Austausch zwischen Ost und West - auch zwischen Polen und Deutschland - alles andere als selbstverständlich gewesen; und wenn Sie, sehr geehrter Herr Professor Jarczyk, heute den MinervaPreis erhalten, dann gilt diese Ehrung für eine ganz besondere Leistung, wenn man so will für einen doppelten Brückenschlag:

Den wissenschaftlichen Brückenschlag - von der Universität Krakau (übrigens einer der ältesten europäischen Hochschulen) nach Deutschland, nach Nordrhein-Westfalen und nach Jülich

und

den menschlichen Brückenschlag der Verständigung zwischen Polen und Deutschen.

Diese Verständigung, das ist eben keine Selbstverständlichkeit - wenn man selbst und seine Familie in der Zeit des 2. Weltkrieges leidvolle Erfahrungen nicht nur mit Unverständnis, sondern mit Verfolgung und brutaler Unterdrückung machen musste.

Traurig und beschämend ist für uns, dass uns heute immer noch Schatten der Vergangenheit begegnen. Der Rechtsextremismus, der uns derzeit landauf, landab beschäftigen muss, ist ein politisches, soziales, mit Blick auf unsere Geschichte aber auch ein moralisches Problem. Wer hätte denn geglaubt, dass das im Jahr 2000 bei uns immer noch und immer wieder Thema sein könnte!?

Ich will hier und heute nur sagen, dass wir Intoleranz, Chauvinismus und gewalttätigem Fremdenhass mit aller Entschiedenheit entgegentreten. Da gibt es kein Dulden oder Zögern, sondern nur die eine Antwort: Nie wieder!

Umso wichtiger sind jetzt die besonderen Zeichen und alltäglichen Beispiele gelebten Miteinanders mit unseren ausländischen Mitbürgern und unseren Nachbarn in Ost und West.

Ein Zeichen sehe ich, sehr geehrter Herr Professor Jarczyk, auch in Ihrem Wirken und in der heutigen Ehrung, weil hier eine über Jahrzehnte gewachsene gegenseitige Verbindung zum Ausdruck kommt. Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass hier wieder die Naturwissenschaften und gerade die Physik ihre Hand im Spiel haben.

Denken Sie etwa an die große Zeit der Physik in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts (z.B. Bohr, Einstein, Rutherford, de Broglie) - es gab und gibt ja kaum eine internationalere Wissenschaft. Eine Forschung, die sich um nationale Grenzen und nationalistische Vorbehalte nicht geschert hat und nicht schert.

Wo sie es doch getan hat oder darein gezwungen wurde, da kennen wir die Folgen: intellektueller und ethisch-moralischer Aderlass, Verödung der Forschung. Eine deutsche Physik zum Beispiel konnte gar nichts anderes als ein Widerspruch in sich sein!

Die Physik hat ihre Erfolge errungen, weil sie immer im Konzert spielt und weltweit Verständigung suchen und finden muss. So ist das - zumal in Zeiten des Internet - bis heute. Das Phänomen der Globalisierung hat es hier also immer schon gegeben:

Nämlich die Gemeinschaft der Forschenden und Lehrenden - die scientific community - die gemeinsam am body of knowledge arbeiten, an dem, was wir wissen konnen und was wir gemeinsam - für den Fortschritt unserer Gesellschaften und die Wohlfahrt der Menschen nutzen können.

Auch im Forschungszentrum Jülich ist das ja von Anfang an deutlich und fruchtbar gewesen. Hier haben Fragen nach dem Aufbau der Materie Menschen zusammengeführt, darunter Professor Jarczyk und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von der Universität Krakau.

Vor allem seit 1993, dem Jahr der Inbetriebnahme des Cooler Synchrotron COSY - der Teilchenrennbahn und Protonen Crashanlage - haben sich die wissenschaftlichen, aber auch die persönlichen Kontakte und Beziehungen weiter vertieft. Das war wohl eine gut angelegte Forschungsinvestition!

Ich will unterstreichen, dass Nordrhein-Westfalen von Anfang an ein außerordentliches Interesse an dieser Grundlagenforschung gehabt hat. Wir haben die Entwicklung der Anlage in Jülich mit allem Nachdruck gefördert.

Unter dem gemeinsamen Dach des Forschungszentrums gibt es mittlerweile Spitzenforschung und hervorragende Ergebnisse in verschiedensten naturwissenschaftlichen Wissensbereichen. Da ist es im Übrigen ganz selbstverständlich, dass wir uns sehr deutlich und sehr positiv dazu stellen, das europäische Projekt einer Spallations-Neutronenquelle ESS nach Jülich zu holen.

Für dieses Projekt gibt es nach unserer Überzeugung im Forschungszentrum allerbeste Voraussetzungen:

Ein Prototyp des späteren ESS-Targets mit dem klangvollen Namen JESSICA (Jülich Experimental Spallation Target Set-up in COSY Area) ist - unter Beteiligung des COSY-Teams - bereits in Betrieb genommen.

Ich denke, dass Sie, Herr Professor Jarczyk, das alles mit genauso viel Spannung beobachten wie wir. Die Landesregierung wird das weitere Geschehen mit höchstem Interesse und tatkräftig begleiten. Ich sehe gute Chancen, das Projekt nach Jülich zu holen - Nordrhein-Westfalen hat seinen Hut in den Ring geworfen!

Spitzenforschung, wie sie hier in Jülich betrieben wird, braucht natürlich ein Umfeld, in dem und mit dem sie sich entwickeln kann. Im Dreieck Köln, Bonn, Aachen ist das in jeder Hinsicht gewährleistet. Die wissenschaftliche und wirtschaftliche Infrastruktur ist hervorragend. Wir werden die sogenannte ABC-Region als Wissenschaftsregion von höchstem internationalem Niveau weiter ausbauen.

Das Forschungszentrum Jülich bleibt dabei wertvoller Nukleus und Katalysator, von dem wir uns auch weiterhin wichtige Impulse für die Region und darüber hinaus erhoffen.

Jeder weiß, dass hier in unterschiedlichsten Bereichen am Puls der Zeit gearbeitet wird - sowohl grundlagen- als auch anwendungsorientiert. Energie, Verkehr, Umwelt, Bio- und Informationstechnologie - das sind Forschungsfelder, die zusammen mit dem kernphysikalischen Bereich auch in Jülich intensiv bearbeitet werden.

Wir brauchen Kompetenzzentren und Impulsgeber wie Jülich, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, um neue Herausforderungen auch in Zukunft phantasievoll, kreativ und innovativ anpacken zu können. Damit solche Kompetenz entstehen kann, werden wir uns in Zukunft noch mehr als bisher auch mit unseren Hochschulen der Welt öffnen.

Ein Beispiel: Wir werden in nächster Zeit Graduate Schools zur Förderung in- und ausländischer Leistungseliten in unseren Hochschulen einrichten.

Wir brauchen den frischen Wind, den Studentinnen und Studenten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus allen Regionen der Welt zu uns bringen. Wir brauchen sogar Durchzug, wenn wir in Wissenschaft und Forschung hart am Wind segeln wollen. Brain gain und brain drain sind ja nur zwei Seiten derselben Medaille.

Schließlich entstehen Kompetenz und Exzellenz dann, wenn an unseren Hochschulen und unseren Forschungseinrichtungen Menschen aus aller Herren Länder ein und aus gehen, wenn wir die besten Köpfe zusammenbringen, wenn wir selbstverständlich miteinander und voneinander lernen. Das ist es, was wir wollen: eine gemeinsame, internationale Lernkultur!

Mit Ihrer Person, sehr geehrter Herr Professor Jarczyk, haben Sie zwischen Krakau und Jülich, zwischen Polen, Deutschland und Nordrhein-Westfalen ein Band geknüpft, das zu hegen und zu pflegen für uns auch weiterhin Aufgabe und Herausforderung ist.

Der MinervaPreis ist einer kleinen in der Nähe von Jülich gefundenen bronzenen Statue der Minerva nachempfunden, ein Relikt der Römer, das uns daran erinnert, dass sich schon immer Menschen auf der Grenzlinie von Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur von weit her aufgemacht haben, um Neues zu entdecken und anderen zu begegnen.

Ich hoffe, sehr geehrter Herr Professor Jarczyk, dass Sie bei uns gefunden haben, was Sie zu finden aufgebrochen sind!

Zu dem Preis, der Ihnen gleich überreicht wird, gratuliere ich Ihnen herzlich.