Grußwort

Dr. Krzysztof Miszczak
Gesandter der Republik Polen

Gestern feierten wir den dreißigsten Jahrestag der Vertragsunterzeichnung über die Grundlagen der Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen zwischen Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland. Der am 7. Dezember 1970 vom deutschen Bundeskanzler Brandt und polnischen Ministerpräsidenten Cyrankiewicz unterzeichnete Vertrag hatte eine Signalwirkung und war Auslöser für weitere Entwicklungen.

Politik kann Signale setzen, Entwicklungen auslösen, doch oft läuft sie auch den Ereignissen hinterher, die sich im direkten Kontakt der Bürger zweier Länder längst vollzogen haben. Innerhalb von wenigen Jahren nach dem Vertrag von 1970 hinkte die Politik den tatsächlichen Gegebenheiten schon hinterher.

Im Dreigespann Wirtschaft, Politik und Wissenschaft ist die Wissenschaft der Wirtschaft viel ähnlicher als der Politik. Wissenschaft und Wirtschaft sind pragmatisch, bereit, neue Märkte für sich zu nutzen, und nehmen wenig Rücksicht auf übergeordnete politische Vorbehalte.

Zwischen Förderung und Behinderung, zwischen staatlicher Lenkung und privater Initiative hat sich der wissenschaftliche Dialog zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 30 Jahren einen Weg gesucht und in vielen Fällen gefunden. Einen solchen Weg haben auch die Physiker des Instituts für Physik der Jagiellonischen Universität aus Krakau und dem Forschungszentrum Jülich gefunden, die Ende der 7Oer Jahre eine intensive Zusammenarbeit begründeten.

Professor Lucjan Jarczyk war nicht nur Mitglied dieser Gruppe, sondern der federführende Wissenschaftler dieser Kooperation, die teilweise unter sehr abenteuerlichen Rahmenbedingungen stattfand und ihre Arbeiten durchführte. Getrieben von dem Wunsch, gemeinsam Physik zu machen und gemeinsam zu freundschaftlichen Formen des Zusammenlebens über alte Grenzen hinweg zu kommen, entwickelten sie eine Kooperation, die, auf wissenschaftlichem Fundament begründet, lange anhalten sollte und sehr fruchtbar in ihrer Produktivität von anerkannten Ergebnissen wurde.

In einem weltpolitischen Klima, das durch den Helsinki-Prozess und eine vorübergehende detente zwischen den Blöcken gekennzeichnet war, gelang dieser wissenschaftliche Brückenschlag zwischen Polen und Deutschland. Die zwischen Krakauern und Jülichern geschaffenen Verbindungen erwiesen sich als tragfähig genug, auch die bald folgende erneute Verschärfung des Ost-West-Konfliktes zu überstehen. Jetzt, über 20 Jahre nach der Begründung dieser Kooperation hat die wissenschaftliche Zusammenarbeit eine Dimension erreicht, die für die Zukunft vielversprechend ist. Der Austausch von Gedanken, Ideen und Menschen zwischen beiden Partnern ist gut vorangekommen und aus dem Alltag der beteiligten Forschungszentren nicht mehr wegzudenken.

In der Satzung des MinervaPreises, den heute Professor Jarczyk bekommt, heißt es, dass dieser Preis Persönlichkeiten auszeichnet, die sich auf den Grenzlinien zwischen Kunst, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft besondere Verdienste um die Stadt Jülich gemacht haben.

Wie unser heutiger Gastgeber, Professor Treusch, einmal bemerkte, beinhaltet dieser Satz in seiner Bildlichkeit - Verdienste auf Grenzlinien - eine gewollte und wesentliche Aussage:

Grenzen sind nicht dazu da, weggerissen zu werden - totale Grenzenlosigkeit wäre Chaos - sondern sie sind dazu da, beschritten und überschritten zu werden, weil nur so die Wechselwirkung zwischen denjenigen diesseits und denjenigen jenseits der Grenze fruchtbar gemacht werden kann.

In der Person von Professor Jarczyk ehren wir heute einen solchen Grenzgänger, eine Mittlergestalt zwischen West und Ost. Sein Engagement für den Aufbau der Zusammenarbeit zwischen polnischen und deutschen Physikern beweist uns, dass für die Wissenschaft der Graben zwischen West und Ost nie unüberbrückbar gewesen war.

Die Verleihung des MinervaPreises an den polnischen Wissenschaftler kann aber auch als Anerkennung aller Bemühungen in Polen verstanden werden, die auf die Verringerung der unser Land von den hochentwickelten Industriestaaten trennenden Distanz abzielen.

Wir bewerben uns um die Aufnahme in die Europäische Union. Ausschlaggebend für unsere Position im vereinten Europa wird das sozusagen humane Kapital sein, insbesondere das Bildungsniveau der Bevölkerung und die Effizienz der Wissenschaft. Polen braucht seine wissenschaftliche Position in der Welt jedoch nicht von Null an aufzubauen. Unsere Forschungsleistungen werden in internationalen Ranglisten höher bewertet als z.B. unsere ökonomischen Leistungen - trotz der in letzter Zeit günstigen Tendenzen in der Wirtschaft.

Eine Analyse der internationalen wissenschaftlichen Literatur in den Jahren 1987-1998, die vom Institut für Wissenschaftliche Information in Philadelphia durchgeführt wurde, erkennt Polen einen hohen 17. Platz zu. Die polnische Physik, deren Vertreter wir heute ehren, nimmt auf dieser Liste einen noch besseren 12. Platz ein.

Die Wissenschaft war in der Vergangenheit ein entscheidendes Bindeglied zwischen den Menschen und Nationen. Auch heute noch spielt sie diese Rolle. Mit dem Aufbau der wissenschaftlichen und technischen Zusammenarbeit zwischen Ost und West ebnet Europa vielleicht den Weg für eine neue Renaissance zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Bereits vor 150 Jahren hatte der polnische Nationaldichter Adam Mickiewitz hellsichtig erkannt:

Die Lage in Europa ist heute so, dass ein Volk unmöglich den Weg des Fortschritts getrennt von den anderen Völkern beschreiten kann, ohne sich selbst und somit die gemeinsame Sache zu gefährden.

Lässt sich die Notwendigkeit von der Partnerschaft besser begründen, auch die in der Wissenschaft?